M. Krauss (Hrsg.): Die bayerischen Kommerzienräte

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Titel
Die bayerischen Kommerzienräte. Eine deutsche Wirtschaftselite von 1880 bis 1928


Autor(en)
Krauss, Marita
Erschienen
München 2016: Volk Verlag
Anzahl Seiten
848 S.
Preis
€ 69,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Richard Pohle, Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

1.850 Kommerzienräte auf rund 850 Seiten, in acht Jahren Arbeit erschlossen durch 331 Seiten Kurzbiographien, 66 Seiten Register sowie nicht zuletzt 35 überreich bebilderte Aufsätze von 27 Autoren (und zahlreichen weiteren Mitarbeitern); das macht knapp drei Kilogramm Buch für gerade einmal 69 Euro.

Kalkulationen wie diese waren den bayerischen Kommerzienräten, die der von Marita Krauss herausgegebene Band untersucht, sicher nicht fremd. Der Kommerzienratstitel war nämlich auch in Bayern nicht nur ein vom Staat nach sorgfältiger Prüfung verliehener und den loyalen und „ehrbaren Kaufmann“ auszeichnender Ehrentitel, sondern er war auch und vielleicht sogar in erster Linie eine lohnende Investition. Für ein Spendenvolumen von im Durchschnitt 20.000 Mark für den einfachen und etwa 50.000 Mark für den „Geheimen Kommerzienrat“ bekam der Wohltäter vor dem Krieg ja gleichsam den amtlichen „Stempel der Solidität“ (S. 55), der ihn nicht nur im Kreis von Adel, Politik und beamteten Bildungsbürgern salonfähig machte, sondern der auch der übrigen Wirtschaftselite eine staatlich geprüfte Bonität signalisierte und also handfeste Vorteile bei weiteren Investitionen bedeutete. Ein gutes Geschäft war der Titel zudem für den bayerischen Staat, der den Titelhunger der Wirtschaftsbürger zwar erst relativ spät, zwischen 1880 und 1918, bediente, der die Verleihungspraxis dafür aber anders als im Rest des Reiches und im Widerspruch zur Weimarer Reichsverfassung zwischen 1923 und 1928 noch einmal aufnahm, weil er diese lukrative Einnahmequelle eben doch nicht missen wollte und konnte.

Die in Bayern so noch über das Kaiserreich hinaus ausgezeichneten Wirtschaftsbürger einerseits als ihren Betrieb und ihre Region prägende Unternehmerpersönlichkeiten sichtbar zu machen und sie zugleich als in vielfacher Weise vernetzte und habituell durchaus homogene großbürgerliche Gruppe der Forschung zur weiteren Erschließung zur Verfügung zu stellen, war das doppelte Anliegen dieses Bandes – und hieraus resultiert auch, dass dieser sich nicht so recht zwischen systematischem Handbuch und einem exemplarischen Sammelband entscheiden zu können scheint.

In sechs Kapiteln werden die Kommerzienräte dabei aus unterschiedlichen Perspektiven vorgestellt. Im Einleitungsteil werden von Marita Krauss die landes-, unternehmens- und bürgertumsgeschichtlichen Fragen entwickelt und zusammenfassend einige Ergebnisse vorgestellt: Statt einer Feudalisierung der bayerischen Wirtschaftselite sei, wie schon vielfach konstatiert1, eher deren Annäherung an die hohe Beamtenschaft zu beobachten, auffallend sei neben der selbstverständlichen Integration der jüdischen Wirtschaftselite zudem der relativ hohe Anteil von ernannten Katholiken, was noch einmal die Weber‘sche ‚Protestantismusthese’ relativiere, an der sich einige Beiträge tatsächlich immer wieder abarbeiten. Deutlich weiterführend und über Bayern hinaus bedeutsam ist dagegen die erstmals systematische Integration auch der Kommerzienräte in Kleinstädten und Landgemeinden. Während sich die Forschung auch zu Preußen bisher überwiegend mit den Großunternehmern in den expandierenden Städten beschäftigte, kommen hier auch die zahlreichen „lokalen Könige“ in den Blick, die zu Schlüsselfiguren der regionalen Entwicklung wurden, deren wirtschaftliche und mäzenatische Bedeutung vor Ort aber nicht selten in einen noch heute sichtbaren Personenkult umschlug. Ebenfalls wichtig und durch den prosopographischen Zugriff des Bandes ohnehin naheliegend ist die Analyse der Familienkartelle und Heiratskreise, die einerseits große Vermögen zusammenführten, andererseits aber auch die Verbindungen zum Bildungsbürgertum stärkten. Auch die lokalen Geselligkeitskreise etwa in der Kegelbahn des Münchner Hofbäckers Seidl werden analysiert, wobei hier das Nebeneinander von Künstlern der „Allotria“, Kommerzienräten der Braudynastie Sedlmayr und den Prinzen des königlichen Hauses eindrücklich die besondere bayerische Allianz von Bier, Kunst und Politik illustriert. Ebenfalls zum überblicksartigen Einleitungsteil gehören sodann Überlegungen zum Schreiben von Unternehmerbiographien und über das soziale Kapital des „ehrbaren Kaufmanns“ (dieser wieder von Marita Krauss, die insgesamt sieben Beiträge liefert), außerdem ein Überblick über die Verleihungspraxis sowie einige statistische Annäherungen an diese bayerische Wirtschaftselite nach Regionen, Branchen, Konfessionen und so weiter.

Der zweite Teil untersucht dann in neun Beiträgen die Kommerzienräte in einzelnen bayerischen Städten (und Dörfern), wobei hier sozialstrukturelle Analysen nur zu Nürnberg vorliegen, nicht aber, wie anhand der Anzahl der Kommerzienräte eigentlich naheliegend, auch zu Augsburg oder München. Zu München und seinen 438 ausgezeichneten Industriellen, Händlern und Bankiers kommt hier lediglich die – sicherlich besonders einflussreiche, aber kaum repräsentative – Großfamilie Sedlmayr in den Blick, ähnlich sind es auch in den anderen behandelten Städten eher einzelne Familien oder Schlüsselindustrien, die untersucht werden, also etwa die Kugellagerindustrie in Schweinfurt oder die Porzellanindustrie in Selb. Auch für Kaiserslautern ist es lediglich die einzige Kommerzienrätin Bayerns und Deutschlands, Lina Pfaff, die vorgestellt wird – dies ganz sicher zu Recht und sehr informativ, aber: Warum an dieser Stelle und was sagt dies über Kaiserslautern aus?

Ein dritter kürzerer Teil nimmt sodann in drei Beiträgen das kommerzienrätliche Stiften und Spenden in den Blick. Als spezifische Wohlfahrtseinrichtung wird hierbei der Werkswohnungsbau herausgestellt, bei dem philanthropische Motive jedoch meist hinter das Interesse an der Bindung der qualifizierten Arbeitskräfte und ihrer Erziehung und Kontrolle zurückfielen. Als Instrumente bürgerlicher Erziehung und Repräsentation dienten sodann auch die diversen Stadtverschönerungsinitiativen, also das Stiften von Denkmälern, Brunnen oder Bürgerparks, sei es im sammelnden Verein oder aus Privatvermögen, was oft in engem Zusammenhang mit der Titelverleihung geschah. Auch das Spenden privater Kunst-Sammlungen (Krippen, Krüge, Porzellan, prähistorische Funde usw.), das Stiften privater Heimatmuseen oder die Unterstützung der großen bayerischen Museen in Nürnberg, München oder Augsburg war hier eine wichtige, die staatsloyale Gesinnung bekräftigende Station auf dem Weg zum ersehnten Titel.

Besaß man diesen dann, so galt es, ihn standesgemäß zu repräsentieren, was wiederum der vierte Teil des Bandes mehr illustriert als analysiert. Neben den Formen großbürgerlichen Bauens und Wohnens, die sehr breit bebildert werden, geht es hierbei auch um Selbstdarstellungen in Werbung und Photographie sowie um die aufwendigen Grabanlagen vieler Kommerzienräte. Ebenso findet sich hier ein bunter Strauß literarischer Verarbeitungen der Kommerzienratsfigur mit der dicken Zigarre oder dem „echten“ Likör als seinen Hauptattributen, wobei durch die Nähe zum Münchner Simplicissimus die komische Figur deutlich die Oberhand behält.

Der fünfte Teil widmet sich sodann dem Verhältnis der Kommerzienräte zur Politik, wobei gerade hier der Kapiteltitel etwas irreführend ist, weil etwa die Hauptperson des im Übrigen sehr prägnanten Beitrags über die Finanzdynastie der von Fincks, nämlich August von Finck, selbst gar kein Kommerzienrat war, sondern sich als „Erbe“ und NSDAP-Spendensammler geradezu grotesk von seinem Vater, dem Bankier, Geheimen Kommerzien- und Reichsrat Wilhelm von Finck, abhob, der, so Marita Krauss’ scharfes Fazit, als Inbegriff des „ehrbaren Kaufmanns“ mit seinem Sohn „vermutlich [...] keine Geschäfte gemacht“ hätte (S. 264). Während nun die Untersuchungen zur Rolle der Kommerzienräte in der Organisation der Kriegswirtschaft oder in den nationalkonservativen Verbänden und der „Bayerischen Volkspartei“ hier sehr wohl am Platz sind, fallen die Wege jüdischer Kommerzienräte nach 1933, die hier wie überall teils in die Emigration teils in Tod und Vernichtung gingen, wieder nur bedingt in diese Kategorie, genauso wie die Betrachtung der Spruchkammerverfahren gegen die Kommerzienräte und Wehrwirtschaftsführer in den späten 1940er-Jahren. All diese Beiträge sind für sich genommen durchweg informativ und bringen neben neuen Erkenntnissen im Einzelnen auch pointierte Urteile über die eben nur vermeintliche moralische Auszeichnung der Kommerzienräte gegenüber anderen titellosen Unternehmern, doch systematisch gehören sie eben doch nicht recht zusammen. Das letzte Kapitel bietet darum, und eigentlich konsequent, nur noch eine Reihe von acht einzelnen Unternehmerprofilen von bekannten Spielwarenherstellern, über Handschuhfabrikanten bis hin zu jüdischen und nichtjüdischen Bankiers in Augsburg.

Wäre das Buch über die bayerischen Kommerzienräte hier zu Ende, hätte man also einen durchweg informativen, reich bebilderten und aufwendig gestalteten Sammelband vor sich, dessen kurze und gut lesbare Beiträge im Ganzen aber doch nur selten die Ebene der Einzelfälle verlassen und deren systematische Einheit dem Rezensenten nicht immer einzuleuchten vermochte. Tatsächlich aber wäre damit ein Großteil der Arbeit an diesem Band noch gar nicht gewürdigt, nämlich das Zusammentragen und Aufbereiten der 1.850 Kurzbiographien sowie deren aufwendige Erschließung durch Register für Personen, geografische Angaben, Firmen, Stiftungen, Vereine sowie ein Sachregister. Nimmt man dies dazu, so bekommt der Anspruch des Bandes, nämlich ein „Grundlagenwerk“ der bayerischen Wirtschaftselite zwischen 1880 und 1930 zu liefern (S. 7), noch einmal eine andere Bedeutung. Als Grundlage weiterer Forschung zu den bürgerlichen Netzwerken Bayerns, als Einstiegslektüre für Seminar oder studentische Arbeitsgruppe eignet sich der Band nämlich bestens, führen die einzelnen Beiträge doch exemplarisch vor, was und wie sich in anderen Städten oder Vereinen und mit anderen Fragestellungen über eine in den Quellen gut dokumentierte und hier vorbildlich erschlossene Gruppe des Wirtschaftsbürgertums noch herauszufinden lohnen würde – und für ein solches ‚Arbeitsbuch’ lohnt sich die Investition allemal, selbst dann, wenn sich dereinst vielleicht doch noch ein Repositorium fände, das die Daten der Biographien zur weiteren digitalen Auswertung und Aufbereitung bereit hielte.

Anmerkung:
1 Vgl. besonders Dirk Schumann, Bayerns Unternehmer in Gesellschaft und Staat, 1834–1914. Fallstudien zu Herkunft und Familie, politischer Partizipation und staatlichen Auszeichnungen, Göttingen 1992; oder Dieter Ziegler, Die wirtschaftsbürgerliche Elite im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz, in: Ders. (Hrsg.), Großbürger und Unternehmer. Die deutsche Wirtschaftselite im 20. Jahrhundert, Göttingen 2000, S. 7–30.